Jährlich erleiden rund 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Am augenscheinlichsten sind dabei sensomotorische Folgen, wie beispielsweise Paresen, also Lähmungen. Solche Einschränkungen bei einem Krankheitsbild, das vornehmlich ältere Menschen betrifft, können dazu beitragen, die Selbstständigkeit im Alltag zu reduzieren.
Bei der Behandlung durch Medikation oder Rehabilitation gilt es, zu prüfen, welche Funktionseinschränkungen vorliegen und schließlich, ob die erwünschte Wirkung der Behandlung auch erzielt wurde. In der Regel geschieht dies über standardisierte Tests, wie Messungen der Griffkraft oder erreichbare Gehgeschwindigkeiten. In welchem Maße solche Testungen der Kapazität auf das in der Regel submaximale Alltagsverhalten übertragbar sind, wurde bislang nicht ausreichend geprüft.
Dr. Philipp Gulde, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Bewegungswissenschaft, untersuchte dieses Phänomen in der Studie „Outside the laboratory assessment of upper-limb laterality in patients with stroke: A cross-sectional study" mittels Wearables (Smartwatches). Die Ergebnisse der Studie wurden im Journal „Stroke" veröffentlicht. Die Fachzeitschrift ist eine der wichtigsten im Bereich der klinischen Neurologie und hat einen Impact Faktor von 10,17.
In der Studie wurde bei 50 Personen mit Schlaganfall untersucht, wie unterschiedlich die Leistung der oberen Extremitäten bei klinischen Tests war und ob sich diese Lateralität im Alltagsgebrauch widerspiegelte. Das tägliche Verhalten wurde hinsichtlich dreier Dimensionen analysiert: das Volumen („Wie viel?“), die Intensität („Wie stark/schnell?“) und die Güte („Wie geschmeidig/koordiniert?“). Die Rekrutierung fand am Zentrum für klinische Neuroplastizität, Medical Park Loipl, einem langjährigen wissenschaftlichen Kooperationspartner, statt. Es zeigte sich, dass das Alltagsverhalten und die Labortests deutlich und zuverlässig assoziiert waren und, dass die sensomotorischen Einschränkungen alle untersuchten Dimensionen betreffen, die Intensität allerdings am sensitivsten misst.
„In dem Artikel zeigen wir auf, dass Daten von Aktivitätssensoren, wie sie beispielsweise in einer Smartwatch eingebaut sind, bei Schlaganfall-Patienten aussagekräftige Daten über das Alltagsverhalten liefern können. Dabei gehen wir über die bisher erforschten Verfahren weit hinaus und bestimmen unterschiedliche Verhaltensdimensionen. Unsere Messungen zeigen, wie sich die Unterschiede zwischen den Händen, die in den klinischen Tests festgestellt werden, in den Alltag fortsetzen“, erläutert Prof. Dr. Joachim Hermsdörfer, Ordinarius des Lehrstuhls für Bewegungswissenschaft und Head des Departments Health and Sport Sciences.
Dr. Gulde sieht in der einfachen Handhabung und Verfügbarkeit der Wearables einige Vorteile gegenüber den klinischen Tests: „Ein Monitoring mittels Smartwatches bietet die Möglichkeit einer durchgehenden Beobachtung – jede Stunde, jeden Tag, das ganze Jahr hindurch. Das wäre mit klinischen Tests teuer und jenseits der personellen Ressourcen.“ Auch der Reiseaufwand der zum Teil mobilitätseingeschränkten Personen sei zu beachten, denn „mithilfe der Smartwatch am Handgelenk kann ich an den abgelegensten Orten messen und zwar beliebig viele Personen gleichzeitig“, ergänzt der wissenschaftliche Mitarbeiter.
Letztlich erlauben die kinematischen Analysen der Sensordaten eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen, das Verhalten beeinflussenden Faktoren: „Möglicherweise bewegt sich eine Person wenig, da er oder sie unter einer Depression nach einem Schlaganfall leidet. Wenn die Person unter sensomotorischen Einschränkungen leidet, können wir diese anhand von Intensitätsmaßen unabhängig der affektiven Einflüsse quantifizieren. Und für uns als Wissenschaftler_innen ist es doch schön, zu sehen, dass unsere teilweise sehr abstrakten klinischen Tests tatsächlich etwas mit dem Alltagsverhalten der betroffenen Menschen zu tun haben. Bisher haben wir das einfach nur behauptet“, erläutert Gulde abschließend.
Die Studie ist Teil des Innovationsnetzwerks eXprt der Technischen Universität München und wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Freistaat Bayern im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert.
Zur Publikation „Outside the laboratory assessment of upper-limb laterality in patients with stroke: A cross-sectional study”
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Kontakt:
Prof. Dr. Joachim Hermsdörfer
Head Department Health and Sport Sciences
Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
Tel.: 089 289 24550
E-Mail: joachim.hermsdoerfer(at)tum.de
Dr. Philipp Gulde
Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
E-Mail: philipp.gulde(at)tum.de
Text: Bastian Daneyko
Fotos: Privat