Im deutschen Fußball wird oftmals über die Entscheidungen des Video-Schiedsrichters diskutiert. Seit der Saison 2017/18 können in der Bundesliga strittige Szenen überprüft und eventuell revidiert werden. Auch in der englischen Premier League kommt der „Video Assistant Referee“ (VAR) seit der Saison 2019/20 zum Einsatz. Oft werden die Entscheidungen jedoch nicht transparent genug kommuniziert, weshalb es zu Unmut bei den Fans kommt.
Wie sehr die Stimmung von Zuschauer_innen der englischen Premier League sinkt, hat nun der Lehrstuhl für Trainingswissenschaft und Sportinformatik von Ordinarius Prof. Dr. Martin Lames untersucht. Dr. Otto Kolbinger, wissenschaftlicher Mitarbeiter, sowie Melanie Knopp, Absolventin des Master-Studiengangs „Sport & Exercise Science“, haben die unmittelbaren Auswirkungen des Video-Schiedsrichters auf die Stimmung der Fans der englischen Premier League anhand des Social-Media-Kanals Twitter analysiert. Insgesamt flossen 643.251 englischsprachige Tweets aus 129 Spielen in die Studie mit ein, in denen es 94 VAR-Vorfälle gab. Die Ergebnisse wurden nun unter dem Titel „Video kills the sentiment – Exploring fans’ reception of the Video Assistant Referee in the English Premier League using Twitter data” im Journal „PLOS ONE” veröffentlicht, das einen Impact Faktor von 2,740 hat.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde die Methode des „text minings“ verwendet, ein algorithmus-basiertes Analyseverfahren zur Entdeckung von Bedeutungsstrukturen in Textdaten. Es wird genutzt, um aus einer bestimmten Form von Daten einen Mehrwert zu generieren. Im Zuge der Studie lag der Schwerpunkt auf der automatischen Extraktion von implizitem Wissen aus großen Mengen von Textdaten, in diesem Fall Tweets, die über eine Schnittstelle extrahiert wurden. Insgesamt hatten über 58.000 Tweets (9,1 Prozent aller Tweets) einen direkten Bezug zum Video-Schiedsrichter.
„Wir haben den offiziellen Hashtag einer jeden Partie verwendet, wodurch wir sicherstellen konnten, dass der Tweet sich auch auf das jeweilige Spiel bezieht“, erklärt Dr. Kolbinger die Vorgehensweise. „Zudem haben wir erstmalig einen neuen Algorithmus für die Textklassifizierung verwendet, der in unserem Fall besser abgeschnitten hat als Algorithmen, die in vorherigen Studien verwendet wurden. Um ein sogenanntes Overfitting, also eine Überanpassung eines Modells an einen vorgegebenen Datensatz, zu vermeiden, haben wir jeweils nur einen Bruchteil der Variablen in die einzelnen Schritte der Modellbildung einfließen lassen.“ Laut Kolbinger müsste der Algorithmus perspektivisch jedoch auch noch für andere Themen und größere Stichproben getestet werden.
„Das Forschungsprojekt von Dr. Otto Kolbinger und Melanie Knopp ist eine Pionierleistung“, so Prof. Lames. „Die beiden haben mit einer neuartigen Technologie gearbeitet, die sie selbst erschlossen und in Deutschland erstmals angewandt haben. Es ist ein innovativer und bahnbrechender Beitrag, der die Wissenschaft in diesem Bereich weiterbringt.“
Anhand der Datenanalyse wurde untersucht, ob ein Tweet, der auf eine bestimmte VAR-Situation Bezug nimmt, positiv oder negativ formuliert ist. Dabei fand das Forscherteam heraus, dass die durchschnittliche Stimmung der Tweets im Zusammenhang mit Entscheidungen des Video-Schiedsrichters im Vergleich zu anderen Tweets signifikant niedriger war. 76,24 Prozent der über 58.000 Tweets waren negativ formuliert, 12,33 Prozent positiv und 11,43 Prozent neutral. Bei den Tweets ohne VAR-Bezug waren hingegen positive Formulierungen (39,37 %) häufiger vertreten als negative (31,30 %).
Zudem wurde die durchschnittliche Stimmung aller Tweets für jedes Spiel chronologisch untersucht, wodurch gezeigt werden konnte, dass die Stimmung für Tweets, die in den Perioden nach einem VAR-Zwischenfall veröffentlicht wurden, im Vergleich zu den Perioden davor signifikant gesunken war. Dieser Einbruch hielt im Schnitt 20 Minuten lang an. Somit konnte belegt werden, dass der Einsatz des VAR zu einer vorwiegend negativen Stimmung während der einzelnen Spiele auf Twitter führte. Aus diesem Ergebnis entstand auch der plakative und beziehungsreiche Studientitel: "Video kills the sentiment".
„Anhand dieser Sentiment-Analysen kann man Reaktionen vom Publikum sowohl quantitativ als auch qualitativ messen“, erläutert Prof. Lames. „Zudem können Einschätzungen und auch Emotionen untersucht werden, was ein extrem wertvolles Marketinginstrument darstellt.“
Auf Basis der Ergebnisse hat das Forschungsteam festgestellt, dass der derzeitige Status quo als nicht zufriedenstellend angesehen werden kann und empfiehlt daher den Führungsgremien in den Verbänden und Ligen des europäischen Fußballs, das derzeitige System zu verbessern. „Die Fußballverbände sollten versuchen, bei allen VAR-Entscheidungen transparenter zu kommunizieren“, empfiehlt Dr. Kolbinger. „Um diese Transparenz zu gewährleisten, könnten die Verbände die Kommunikation zwischen dem Schiedsrichter auf dem Feld und dem Video-Schiedsrichter übertragen, wie es beispielsweise beim Feldhockey der Fall ist. Eine Alternative wäre, wie im American Football die Möglichkeit einer ‚Coaches Challenge‘ einzuführen. Das sind aber nur alles Denkanstöße, die wir anhand unserer Ergebnisse mit auf den Weg geben wollen.“
Zur Publikation „Video kills the sentiment – Exploring fans’ reception of the Video Assistant Referee in the English Premier League using Twitter data”
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Kontakt:
Prof. Dr. Martin Lames
Lehrstuhl für Trainingswissenschaft und Sportinformatik
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24500
E-Mail: Martin.Lames(at)tum.de
Dr. Otto Kolbinger
Lehrstuhl für Trainingswissenschaft und Sportinformatik
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24502
E-Mail: Otto.Kolbinger(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
Fotos: Ulrich Benz/TUM