Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen sind im organisierten Sport häufig unterrepräsentiert. Fehlendes Wissen, Unsicherheiten im Umgang mit den Erkrankungen sowie verschiedene strukturelle Hürden erschweren ihre Teilhabe.
Das ErasmusPLUS-Projekt „KTM – kidsTUMove goes Europe – cordially fit“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, inklusive und gesundheitsfördernde Bewegungsangebote für diese Zielgruppe europaweit zu entwickeln und zu etablieren. KidsTUMove ist ein Vorhaben des Lehrstuhls für Präventive Pädiatrie, unter der Leitung der Vice Dean Talent Management and Diversity, Prof. Dr. Renate Oberhoffer, das von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Dr. Nicola Stöcker sowie Dr. Christina Sitzberger der Betriebseinheit Angewandte Sportwissenschaft verantwortet wird.
„Auch wenn alle Welt davon redet: Bewegung und Sport als wirksames Medikament gegen viele Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Diabetes oder Depressionen – oder einfach nur zum Erhalt der körperlichen Selbstbestimmtheit – werden noch viel zu wenig eingesetzt. Ich bin sehr dankbar, dass sich die Kolleginnen Nicola Stöcker und Christina Sitzberger so nachhaltig dafür bei Kindern und Jugendlichen engagieren“, erklärt Prof. Oberhoffer.
Bewegung als therapeutisches Mittel
Die Projektidee entstand ursprünglich aus der praktischen Arbeit mit Kindern mit angeborenen Herzfehlern, wie Nicola Stöcker berichtet: „Angefangen hat alles im Deutschen Herzzentrum München. Ich habe dort Kinder – auch auf der Intensivstation – spielerisch bewegt, um ihnen das Gefühl von Normalität zurückzugeben. Es ging darum, Vertrauen in den eigenen Körper zu fördern und einfach einmal wieder Kind sein zu dürfen.“
Aus der stationären Bewegungstherapie entwickelte sich bald eine Sportgruppe für Kinder mit verschiedenen chronischen Erkrankungen. „Es kamen Kinder mit Asthma, Diabetes, onkologischen Erkrankungen – irgendwann war das ein richtig bunter Mix“, so Dr. Stöcker. Um auch Kinder außerhalb Münchens zu erreichen, wurden Feriencamps, Wochenendfreizeiten und schließlich ein europaweiter Austausch sukzessive aufgebaut.
Ziel des Projekts ist es, über sportbasierte Präventionsangebote die Lebensqualität und psychosoziale Resilienz betroffener Kinder nachhaltig zu stärken. Dabei folgt das Projekt einem interdisziplinären Ansatz, der auf drei miteinander verknüpften Säulen basiert: Bewegung, Gesundheit und Selbstwirksamkeit.
Handbuch und Webportal für die Praxis
Ein zentrales Ergebnis des Projekts ist ein mehrsprachiges, evidenzbasiertes Trainingshandbuch für Übungsleiterinnen und Übungsleiter. Es kombiniert medizinisch-pädagogisches Fachwissen mit praxisnahen Anleitungen zur sicheren und individuellen Gestaltung von Bewegungsangeboten für Kinder mit chronischen und psychischen Erkrankungen.
Enthalten sind u. a. krankheitsspezifische Trainingshinweise (z. B. bei Asthma oder Herzfehlern), Checklisten zur Vorbereitung von Sportstunden, konkrete Spielideen wie Atemförderung durch Pustespiele sowie Empfehlungen zu Materialien, Belastungssteuerung und der Zusammenarbeit mit Eltern, Ärztinnen und Ärzten sowie Lehrerinnen und Lehrern. Ergänzt wird das Handbuch durch ein barrierearmes Webportal, das europaweit über Bewegungsangebote informiert und betroffene Familien vernetzt.
Das Projekt wurde in fünf europäischen Ländern umgesetzt, und zwar in Deutschland, Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Dabei zeigte sich deutlich, wie unterschiedlich die Rahmenbedingungen vor Ort sind. In Italien etwa dürfen Kinder mit chronischen Erkrankungen nur mit einer zeitlich begrenzten Sporttauglichkeitsbescheinigung am Vereinssport teilnehmen – oft nur in einer einzigen Sportart. In ländlichen Regionen wie Südtirol ist das Angebot auch stark eingeschränkt, sodass Kindern mit speziellen Bedürfnissen häufig gar keine geeigneten Alternativen zur Verfügung stehen.
„Wir wollen den Trainerinnen und Trainern Mut machen und ihnen gleichzeitig Sicherheit geben“, betont Dr. Sitzberger. „Viele scheuen sich vor dieser Zielgruppe der chronisch kranken Kinder, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen. Das Handbuch gibt ihnen ein Werkzeug, mit dem sie fundiert, verantwortungsvoll und mit Freude arbeiten können.“
Perspektiven und Nachhaltigkeit
Das abschließende Projekttreffen fand Ende Mai 2025 statt und war geprägt von einem fachlichen Austausch. Darüber hinaus wurden europaweite Eventtage für Kinder mit chronischen Erkrankungen initiiert, die künftig jährlich in allen beteiligten Ländern stattfinden sollen, von Spanien bis Griechenland. „Wir schaffen damit nicht nur neue Sportzugänge, sondern vor allem Begegnungsräume, in denen Austausch, Selbstwert und Zugehörigkeit im Mittelpunkt stehen“, erklärt Nicola Stöcker.
Die im Projekt entwickelten Inhalte sollen langfristig bestehen bleiben und weiterverbreitet werden. Ab Sommer 2025 stehen das Handbuch und das Webportal frei zugänglich zur Verfügung. Zusätzlich plant das Team Fortbildungen für Trainerinnen und Trainer in Kooperation mit Sportverbänden und eine engere Verzahnung mit der Ausbildung von Studierenden im Gesundheits- und Sportbereich.
„Wir wollen nicht, dass diese Kinder dauerhaft in geschützten Gruppen bleiben müssen. Unser Ziel ist es, ihnen so viel Selbstvertrauen und Kompetenz zu geben, dass sie sich auch im regulären Vereinssport zuhause fühlen“, so Christina Sitzberger. „Manchmal reicht es schon, ein paar Stunden normal zu sein – ohne Sonderrolle, aber mit Rücksicht auf das, was gebraucht wird.“
Zur Homepage des Lehrstuhls für Präventive Pädiatrie
Zur Homepage des Projekts „kidsTUMove goes Europe – cordially fit”
Kontakt
Prof. Dr. Renate Oberhoffer
Lehrstuhl für Präventive Pädiatrie
Am Olympiacampus 11
80809 München
Tel.: 089 289 24601
E-Mail: renate.oberhoffer(at)tum.de
Dr. Nicola Stöcker
Betriebseinheit Angewandte Sportwissenschaft
Am Olympiacampus 11
80809 München
Tel.: 089 289 24678
E-Mail: nicola.stoecker(at)tum.de
Dr. Christina Sitzberger
Betriebseinheit Angewandte Sportwissenschaft
Am Olympiacampus 11
80809 München
E-Mail: christina.sitzberger(at)tum.de
Text: Bastian Daneyko
Fotos: Privat