Digitale Technologien sind längst Teil der modernen Gesundheitsversorgung. Doch nicht alle Menschen profitieren gleichermaßen von Apps und Online-Angeboten – insbesondere dann, wenn psychosoziale Belastungen den Zugang erschweren. Eine neue Studie des Lehrstuhls für Social Determinants of Health von Prof. Dr. Matthias Richter zeigt nun, dass nicht Stress oder Depression den entscheidenden Unterschied machen, sondern vor allem positive psychologische Ressourcen wie Optimismus und Selbstwirksamkeit. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „JMIR Mental Health“ veröffentlicht, das einen Impact Factor von 5,8 hat.
Das Forscherteam um Johannes Stephan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Social Determinants of Health, untersuchte 173 Teilnehmende des hybriden Präventionsprogramms „RV Fit Psychische Gesundheit“ der Deutschen Rentenversicherung. Das Programm kombiniert eine zweiwöchige stationäre Präsenzphase mit einer zwölfwöchigen digitalen Trainingsphase, die per App begleitet wird. Es stärkt die psychische Gesundheit und Arbeitsfähigkeit von Menschen mit berufsbedingten Belastungen. Mithilfe einer Clusteranalyse identifizierten die Forschenden vier verschiedene psychosoziale Profile – Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Mustern aus Belastung, Lebensqualität, Selbstwirksamkeit und Optimismus – und analysierten, wie diese mit der digitalen Gesundheitskompetenz („eHealth Literacy“) zusammenhängen.
„Wir sind zunächst davon ausgegangen, dass psychische Belastung und digitale Gesundheitskompetenz einfach linear zusammenhängen – also: je belasteter, desto weniger digital kompetent“, erklärt Stephan, Erstautor der Studie. „Die Daten zeigen aber ein differenzierteres Bild. Manche Personen mit hoher Belastung verfügen über erstaunlich gute digitale Fähigkeiten, während andere mit besseren psychosozialen Werten eher Schwierigkeiten haben, mit digitalen Anwendungen umzugehen. Ressourcen wie Selbstwirksamkeit oder Optimismus können diese Zusammenhänge offenbar stark beeinflussen.“
Neben psychologischen Merkmalen wurden auch soziodemographische Einflüsse wie Alter und subjektiver sozialer Status, also die individuelle Einschätzung der eigenen gesellschaftlichen Position bzw. sozialen Klasse, berücksichtigt. Dabei zeigte sich, dass jüngere Teilnehmende und Personen mit höherem Status häufiger über eine bessere „eHealth Literacy“ verfügten. Geschlecht spielte hingegen keine signifikante Rolle. Besonders deutlich wurde der Einfluss von Selbstwirksamkeit: Menschen, die überzeugt waren, mit Schwierigkeiten umgehen zu können, erreichten in allen Dimensionen der digitalen Gesundheitskompetenz höhere Werte. Auch Optimismus und Lebensqualität korrelierten positiv mit den digitalen Fähigkeiten.
„Digitale Präventionsprogramme sollten sich stärker an den individuellen Voraussetzungen der Teilnehmenden orientieren“, betont Stephan. „Wir müssen diejenigen gezielt unterstützen, die sich im digitalen Raum unsicher fühlen – zum Beispiel durch niedrigschwellige Anleitungen oder persönliche Begleitung. Digitale Gesundheitskompetenz ist dabei ein Schlüsselfaktor – nicht nur für Prävention, sondern auch für Rehabilitation und Therapie.“
Die Studie wurde im Rahmen des Projekts PE³PP durchgeführt, das von der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland koordiniert und durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert wird. Ziel ist es, hybride Präventionsprogramme zu entwickeln, die digitale und analoge Elemente kombinieren und so mehr Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsförderung ermöglichen. Die Ergebnisse liefern wertvolle Hinweise dafür, wie solche Programme künftig gestaltet werden können. Unterschiedliche psychosoziale Profile erfordern auch unterschiedliche Unterstützungsformen – etwa durch digitale Gesundheitslotsen, angepasste App-Oberflächen oder ergänzende Coaching-Elemente.
„Wir sollten digitale Gesundheitskompetenz gezielt fördern – möglichst früh und kontinuierlich“, sagt Stephan. „Idealerweise beginnt diese Förderung schon, bevor eine Rehabilitationsmaßnahme startet. Dann können die Teilnehmenden digitale Angebote souverän nutzen und ihre Gesundheit eigenständig mitgestalten.“
Auch Prof. Dr. Matthias Richter, Professor für Social Determinants of Health, betont die gesellschaftliche Relevanz der Ergebnisse: „Digitale Gesundheit ist nicht nur eine technische, sondern auch eine soziale Herausforderung. Menschen unterscheiden sich in ihren Voraussetzungen, Erfahrungen und Ressourcen. Wenn wir Prävention digitalisieren, müssen wir sicherstellen, dass niemand ausgeschlossen wird – gerade jene nicht, die psychisch oder sozial stärker belastet sind. Unsere Ergebnisse zeigen, dass seelische und gesellschaftliche Faktoren eng zusammenhängen und gemeinsam das Leben von Menschen prägen. Sie lassen sich nicht getrennt verstehen.“
Das Forscherteam fordert daher, zukünftige Gesundheitsprogramme stärker personenzentriert zu gestalten und digitale Kompetenzförderung systematisch in Präventionsstrategien zu integrieren. So kann digitale Teilhabe zu einem festen Bestandteil moderner Gesundheitsförderung werden.
„Wir haben bereits die nächste Studie geplant, in der wir genauer untersuchen wollen, wie sich das Nutzungsverhalten und die Adhärenz – also die tatsächliche Anwendung digitaler Inhalte – im Alltag entwickeln“, so Stephan. „Aus diesen Erkenntnissen wollen wir ein Kompetenzmodell ableiten, das dazu beiträgt, digitale Gesundheitsprogramme künftig noch gezielter und nutzerfreundlicher zu gestalten.“
Zur Publikation „Association Between Psychosocial Characteristics andeHealth Literacy: Cross-Sectional Study of Hybrid Secondary Prevention in Mental Health” im Journal „JMIR Mental Health”
Zur Homepage des Lehrstuhls für Social Determinants of Health
Kontakt:
Prof. Dr. Matthias Richter
Lehrstuhl für Social Determinants of Health
Am Olympiacampus 11
80809 München
Tel.: 089 289 24190
E-Mail: richter.matthias(at)tum.de
Johannes Stephan
Lehrstuhl für Social Determinants of Health
Am Olympiacampus 11
80809 München
Tel.: 089 289 24191
E-Mail: johannes.stephan2(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
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