Zunehmend mehr Menschen leiden an Übergewicht oder Adipositas. Schätzungen zufolge werden bis zum Jahr 2035 mehr als 50 % der Weltbevölkerung betroffen sein, was zu gravierenden Gesundheitsproblemen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und bestimmten Krebsarten führen kann. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Ansätze zur Gewichtsreduktion, jedoch sind die damit erreichten Gewichtsveränderungen individuell sehr unterschiedlich. Daher ist es wichtig zu verstehen, welche Parameter einen Einfluss auf den individuellen Erfolg einer Gewichtsreduktion haben, um die individuelle Gewichtsveränderung möglichst genau zu prognostizieren. Hier kann unter anderem maschinelles Lernen (ML) durch das Entdecken von Zusammenhängen in sehr komplexen Datensätzen helfen. Obwohl ML in verschiedenen medizinischen Disziplinen bereits erfolgreich eingesetzt wird, findet es bei der Vorhersage von Gewichtsveränderungen bislang kaum Anwendung.
Unter der wissenschaftlichen Betreuung von Prof. Dr. Köhler, Leiter der Professur für Bewegung, Ernährung und Gesundheit, hat die Doktorandin Christina Glasbrenner vor diesem Hintergrund einen Artikel veröffentlicht, der sich mit dem Einsatz von ML für die Erfolgsprognose einer Kalorienreduktion befasst. Das Forschungsteam entwickelte ML-Algorithmen, um Vorhersagemodelle für individuelle Gewichtsverluste nach einer kalorienreduzierten Diät zu generieren. Die Ergebnisse der Studie wurden nun unter dem Titel „Prediction of individual weight loss using supervised learning: findings from the CALERIETM 2 study“ im „The American Journal of Clinical Nutrition“ publiziert. Die Fachzeitschrift hat einen Impact-Faktor von 6,5.
„Unsere Veröffentlichung ist ein schönes Beispiel dafür, wie wir maschinelles Lernen mit traditionellen Forschungsmethoden kombinieren können, um den Erfolg von Ernährungsinterventionen zu verbessern. Ich bin überzeugt, dass sich solche Ansätze in den nächsten Jahren nicht nur in der Forschung, sondern auch in kommerziellen Gewichtsreduktionsprogrammen etablieren werden. Wir sind sehr froh darüber, dass wir mit Christina Glasbrenner nicht nur die wissenschaftliche Expertise, sondern auch die dafür notwendigen Programmierkenntnisse, im Team haben", äußert sich Prof. Dr. Köhler zur der Publikation und Expertise von Christina Glasbrenner.
Forschungsziel war es, ML-Modelle zu entwickeln, die die individuelle Gewichtsveränderung nach einer kalorienreduzierten Diät vorhersagen, sowie Prädiktoren zu identifizieren, die den Erfolg der Gewichtsreduktion beeinflussen. Christina Glasbrenner erklärt, an welcher Forschungslücke ihre Studie zum Einsatz von ML anknüpft: „Gewichtsverlust ist sehr individuell und die bestehenden Modelle sind in der Regel Durchschnittsmodelle, die für das einzelne Individuum sehr stark abweichen können. Deswegen haben wir versucht, mit maschinellem Lernen sehr viele Daten auszuwerten, um eben vorherzusagen – bevor man eine Kalorienreduktion startet – ob man damit erfolgreich sein wird oder nicht, und wie sich dann auch das Gewicht innerhalb von einem Jahr der Intervention verändern wird.“
Für die Algorithmen nutzte das Forschungsteam Daten aus einer bekannten Kalorienreduktionsstudie aus Amerika (CALERIETM 2). Glasbrenner und ihr Team haben die Ergebnisse von 130 Probanden nach einem Jahr Kalorienreduktion untersucht. In der Analyse wurden 197 Variablen, die alle vor dem Beginn der Intervention bereits bekannt waren, als potenzielle Merkmale berücksichtigt. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass maschinelle Lernmodelle zur Vorhersage von Gewichtsreduktion nach zwölf Monaten kalorienreduzierter Diät gut funktionieren. Laut der Studie waren die Algorithmen unter Verwendung von 20 bis 40 Merkmalen am leistungsfähigsten.
„Wir konnten 21 Variablen identifizieren, die einen sehr großen Einfluss haben und dementsprechend sehr hilfreich für die Vorhersage sind. Sie basieren auf psychologischen und demographischen Fragebogendaten, Ernährungsinformationen, Biomarkern und komplexeren Labor-Messungen. Darunter sind zwei neue Prädiktoren, die im ersten Moment sehr ungewöhnlich erscheinen: die Orgasmus-Zufriedenheit und das Sexualverhalten. Spannend ist auch, dass 16 unserer identifizierten Variablen in der Literatur bereits diskutiert werden und drei Variablen tatsächlich schon in bestehenden Vorhersagemodellen benutzt werden“, ordnet Christina Glasbrenner die Befunde ein. Der stärkste Einfluss auf die Gewichtsveränderung wurde bei der Orgasmus-Zufriedenheit und dem respiratorischen Quotienten festgestellt, wobei höhere Werte mit einer geringeren prognostizierten Gewichtsreduktion assoziiert waren. Relevant waren unter anderem auch höhere Ausgangswerte der Botenstoffe Adiponektin und Parathormon (PTH), die die Gewichtsabnahme ebenfalls behinderten, während höhere Werte für Alter, Körperfett-Anteil, C-reaktives Protein und den glykämischen Index der Ernährung vor der Intervention zu einer stärkeren prognostizierten Gewichtsreduktion führten.
Fachleute können auf Basis dieser Ergebnisse entscheiden, ob eine Patientin oder ein Patient mit einer Kalorienreduktion erfolgreich sein wird, oder ob andere Ansätze zur Gewichtsreduktion verfolgt werden müssen. Laut Christina Glasbrenner bedeutet das für die Abnehmpraxis konkret: „Man kann nun bereits mit grundlegenden Faktoren, die man selbst messen oder mit einem Fragebogen ausfüllen kann, einen Schätzwert bekommen, wie erfolgsversprechend die verringerte Kalorienzufuhr ist. Wenn man zusätzlich komplexere Messungen beim Arzt macht, kann man diesen Schätzwert präzisieren. Das würde eine datenbasierte, schnellere und objektivere Entscheidungsfindung unterstützen.“
Der Fachartikel entstand in enger Kooperation mit dem Pennington Biomedical Research Center (USA), einer der weltweit führenden Institutionen im Bereich Biomedizin und Ernährung, sowie mit der Duke University School of Medicine und der School of Medicine, Dentistry & Nursing der University of Glasgow.
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Kontakt:
Prof. Dr. Karsten Köhler
Professur für Bewegung, Ernährung und Gesundheit
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E-Mail: karsten.koehler(at)tum.de
Christina Glasbrenner
Professur für Bewegung, Ernährung und Gesundheit
TUM Campus im Olympiapark
Am Olympiacampus 11
80809 München
E-Mail: christina.glasbrenner(at)tum.de
Text: Jasmin Schol/Bastian Daneyko
Fotos: Pixabay/Privat