Wie lässt sich verhindern, dass Millionen Menschen mit Bluthochdruck unbehandelt bleiben? Diese Frage steht im Zentrum des internationalen Forschungsprojekts „Behavioral Science Strategies to Increase Hypertension Diagnosis and Treatment (Better Heart)”, das von Prof. Dr. Nikkil Sudharsanan, Leiter der Professur für Behavioral Science for Disease Prevention and Health Care an der Technischen Universität München (TUM), gemeinsam mit Partnerinstitutionen in Indien und den USA geleitet wird. Das Projekt wird vom US National Heart, Lung, and Blood Institute (NHLBI) gefördert. Es verfolgt das Ziel, durch den Einsatz verhaltenswissenschaftlicher Strategien den Zugang zu Diagnose und Behandlung von Bluthochdruck in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu verbessern.
Bluthochdruck, medizinisch als Hypertonie bezeichnet, ist einer der weltweit führenden Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Todesfälle. Schätzungen zufolge leben mehr als 1,2 Milliarden Menschen mit Bluthochdruck, über 80 Prozent davon in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen. In Indien ist das Problem besonders ausgeprägt: Etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung ist betroffen, doch die Mehrheit der Erkrankten weiß nichts von ihrer Krankheit oder erhält somit keine Behandlung. Dabei könnten die meisten dieser Todesfälle durch frühzeitige Diagnose und einfache, kostengünstige Therapien verhindert werden. In den vergangenen Jahren haben mehrere indische Bundesstaaten Programme eingeführt, in denen Gesundheitsfachkräfte Hausbesuche durchführen, Blutdruckmessungen anbieten und Personen mit erhöhten Werten an medizinische Einrichtungen verweisen. Doch der entscheidende Schritt – die ärztliche Bestätigung und der Beginn einer Behandlung – bleibt häufig aus. Viele der Betroffenen, die im Rahmen der häuslichen Untersuchungen auffällige Werte zeigen, suchen die empfohlene Klinik nicht auf oder beginnen nicht mit der notwendigen Behandlung.
„Wir sehen immer wieder, dass es nicht allein an der Verfügbarkeit von Gesundheitsdiensten liegt“, erklärt Prof. Sudharsanan. „Oft sind es Verhaltensfaktoren – falsche Überzeugungen, Informationslücken oder alltägliche Hürden –, die verhindern, dass Menschen den nächsten Schritt gehen.“ Genau an diesem Punkt setzt das „Better Heart“-Projekt an. Das Forscherteam nutzt Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaft, um den Zugang zur medizinischen Versorgung zu verbessern und die Lücken in der Versorgungskette von der Diagnose bis zur Behandlung zu schließen. Dabei geht es insbesondere um zwei zentrale Hürden: zum einen um weit verbreitete Fehlannahmen über Bluthochdruck, zum anderen um die kurzfristigen Kosten und Anstrengungen, die mit der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen verbunden sind.
Viele Menschen in Indien glauben, dass eine Behandlung nur notwendig sei, wenn sie sich krank fühlen oder Symptome wie Kopfschmerzen oder Schwindel verspüren. Da Bluthochdruck jedoch meist symptomlos verläuft, wird er häufig ignoriert – bis schwerwiegende gesundheitliche Folgen eintreten. Hinzu kommt, dass Arztbesuche Zeit, Geld und Organisation erfordern. Diese unmittelbaren Hürden wiegen für viele Menschen schwerer als der langfristige gesundheitliche Nutzen einer Behandlung.
Das „Better Heart“-Team entwickelt und testet zwei verhaltenswissenschaftliche Ansätze, um diese Herausforderungen anzugehen. Zum einen werden neue Kommunikationsstrategien und Beratungsansätze eingesetzt, die speziell darauf ausgerichtet sind, häufige Missverständnisse über Bluthochdruck zu korrigieren und das Bewusstsein für die Notwendigkeit regelmäßiger medizinischer Kontrolle zu stärken. Zum anderen werden kleine finanzielle Anreize – etwa in Höhe von 250 Indischen Rupien, umgerechnet rund drei US-Dollar – erprobt, die den Betroffenen einen zusätzlichen Anstoß geben sollen, eine ärztliche Einrichtung für eine Bestätigungsmessung aufzusuchen. Der zugrunde liegende Gedanke ist, dass ein unmittelbarer positiver Anreiz die kurzfristigen Kosten ausgleicht und so langfristig gesünderes Verhalten fördert.
Um die Wirksamkeit dieser Strategien zu prüfen, wird eine randomisierte kontrollierte Studie in rund 25 Dörfern im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh durchgeführt. Diese Region weist eine besonders hohe Prävalenz von Bluthochdruck auf, während gleichzeitig viele Menschen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Behandlung haben. Etwa 1.700 Erwachsene mit erhöhtem Blutdruck, aber ohne vorherige ärztliche Diagnose, nehmen an der Studie teil. Sie werden in vier Gruppen eingeteilt, die unterschiedliche Kombinationen aus Beratungsansatz und finanziellem Anreiz erhalten. Das Team wird dann ermitteln, welche Kombination von Strategien den größten Einfluss auf den Arztbesuch, die Einleitung einer Behandlung und letztendlich die Blutdruckkontrolle hat.
Neben der quantitativen Datenerhebung werden qualitative Interviews mit Teilnehmenden, Ärztinnen und Ärzten sowie weiteren Gesundheitsakteuren geführt. Diese sollen Aufschluss darüber geben, warum bestimmte Strategien erfolgreicher sind als andere und welche Faktoren die Umsetzung in der Praxis erleichtern oder erschweren. Ziel ist es, evidenzbasierte Empfehlungen zu entwickeln, die auch auf größere Bevölkerungsgruppen und andere Länder übertragbar sind.
„Better Heart” ist ein Gemeinschaftsprojekt renommierter Institutionen: Neben der TUM sind das All India Institute of Medical Sciences (AIIMS), die University of Pennsylvania, die Emory University und J-PAL South Asia beteiligt. Die Laufzeit des Projekts beträgt fünf Jahre.
„Diese enge internationale Zusammenarbeit erlaubt uns, Wissen aus verschiedenen Disziplinen zu bündeln – von Medizin und Verhaltensökonomie über Public Health bis zur Implementierungsforschung“, betont Prof. Sudharsanan. „Wir wollen Strategien entwickeln, die nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern auch praktisch umsetzbar sind – sowohl in Indien als auch in anderen Ländern mit ähnlichen Herausforderungen.“
Das internationale Forscherteam hofft, dass die Ergebnisse des Projekts einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsprogramme in Indien leisten werden. Wenn sich die Strategien als wirksam erweisen, könnten sie in bestehende staatliche Screening-Programme integriert werden und Millionen Menschen den Zugang zu lebensrettender Behandlung ermöglichen. Darüber hinaus liefert „Better Heart“ wertvolle Erkenntnisse darüber, wie Verhaltenswissenschaften und Public-Health-Forschung zusammenwirken können, um Gesundheitsmaßnahmen wirkungsvoller zu gestalten.
„Es geht nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern darum, Verhalten zu verändern – auf eine Weise, die nachhaltig, respektvoll und wirksam ist“, sagt Prof. Sudharsanan. „’Better Heart’ zeigt, wie interdisziplinäre Forschung dazu beitragen kann, globale Gesundheitsprobleme lösbar zu machen.“
Zur Homepage der Professur für Behavioral Science for Disease Prevention and Health Care
Kontakt:
Prof. Dr. Nikkil Sudharsanan
Rudolf Mößbauer Professur für Behavioral Science for Disease Prevention and Health Care
Am Olympiacampus 11
80809 München
Tel.: 089 289 24990
E-Mail: nikkil.sudharsanan(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
Fotos: BEGIN Lab, University of Pennsylvania/Andreas Heddergott, TUM