Dass Kinder sich zu wenig bewegen, ist keine neue Erkenntnis. Auch nicht, dass dadurch bereits in jungen Jahren Krankheiten wie Übergewicht entstehen, die im Lebensverlauf das Risiko von sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Herzinfarkt oder Schlaganfall steigern. Als Beleg dafür wird häufig auf eine Verschlechterung der sportmotorischen Leistungsfähigkeit hingewiesen. Aber stimmt das wirklich? "Nein", sagt Prof. Dr. Filip Mess.
"Entgegen des meist negativen Tenors bisheriger Studien konnten wir nachweisen, dass sich bei Erstklässlern mit Blick auf die sportmotorische Leistungsfähigkeit in den vergangenen zehn Jahren in Summe keine Verschlechterung ergeben hat", erklärt der Ordinarius für Sport- und Gesundheitsdidaktik und rät dazu, bisherige Studien zu hinterfragen.
Studie mit insgesamt 5.001 Erstklässler_innen
Mess und seine Mitarbeiterin Dr. Sarah Spengler analysierten einen Datensatz von Fitnesstests mit insgesamt 5.001 Erstklässler_innen. In den Jahren 2006 bis 2015 wurden im Raum Baden-Baden jährlich rund 500 Erstklässler_innen untersucht. Sämtliche der 18 Grundschulen der Region beteiligten sich an dem Projekt, das durch die Sportstiftung Kurt Henn gefördert wurde.
Untersucht wurden neben der Ausdauerleistung (6-Minuten-Lauf) die Kraft (Liegestütze), die Schnelligkeit (20-Meter-Sprint) sowie die Gleichgewichtsfähigkeit (Balanceübung). "Bei diesen vier Tests zeigte sich eine nachweisbare Verschlechterung lediglich bei der Ausdauerleistung von Jungen. Bei Mädchen blieb diese dagegen konstant. Die Schnelligkeit und die Gleichgewichtsfähigkeit sind bei beiden Geschlechtern sogar besser geworden", resümiert Dr. Spengler.
Besonderes Studiendesign
Im Vergleich zu bisherigen Forschungen weist das Studiendesign eine besondere Qualität auf. "Die Untersuchungen wurden in jedem der zehn Jahre durchgeführt, während bisherige Projekte zumeist nur zwei Messzeitpunkte verwenden, die dann beispielsweise im Abstand von zehn Jahren liegen. Das Problem ist, dass ein solches Forschungsdesign anfällig für Verzerrungen ist", erläutert Prof. Mess. So könnte beispielsweise in einem Jahr eine eher unsportliche Klasse untersucht werden und im nächsten eine recht sportliche - das Ergebnis würde zu Unrecht pauschalisiert.
Die zweite Besonderheit sei die Tatsache, dass sämtliche der 18 Grundschulen in der Region sich an der Studie beteiligten. Verzerrungen durch einen zu großen Anteil städtischer oder regionaler Teilnehmer entfallen somit. "Für die Region Baden-Baden sind die Daten repräsentativ", sagt Mess.
Regionaler Bezug durch Untersuchung im Raum Baden-Baden
Allerdings bedeutet die regionale Auswahl auch eine Einschränkung der Ergebnisse. "Die Untersuchung hat mit Blick auf die Langzeitschlüsse sicherlich eine höhere Aussagekraft als die bisherigen Forschungen. Allerdings lassen sich die Daten nicht ohne Weiteres auf ganz Deutschland übertragen. Denn die eher wohlhabende und ländliche Region Baden-Baden unterscheidet sich möglicherweise von anderen Regionen Deutschlands", so der Professor für Sport- und Gesundheitsdidaktik. Für Mess sollten die Ergebnisse daher ein Anstoß sein, um für künftige Aussagen über langfristige Entwicklungen der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern ähnliche Forschungsdesigns zu verwenden. So sollen in Hessen sportmotorische Untersuchungen für jede_n Grundschüler_in eingeführt werden.
Publikation im Journal "Frontiers in Pediatrics"
Spengler betont: "Wir konnten zeigen, dass sich bei den vier Tests lediglich die Jungs in Bezug auf die Ausdauerleistung signifikant verschlechtert haben. Trotzdem darf dies kein Anlass für Schulterklopfen sein. Denn die Daten sagen nicht aus, dass die Leistungen der Kinder auch tatsächlich gut sind. Sie sind halt nur nicht schlechter geworden." Gerade in Bezug auf Bewegung bestünden weiterhin große Herausforderungen, so Spengler. Damit aus Kindern gesunde Erwachsene werden.
Ergebnisse der Studie von Mess und Spengler wurden in der renommierten Fachzeitschrift "Frontiers in Pediatrics" veröffentlicht. Dieses reviewte Journal hat einen Impact-Factor von 2,172.
Zur Homepage der Professur für Sport- und Gesundheitsdidaktik
Zum Journal-Artikel in Frontiers in Pediatrics
Kontakt:
Prof. Dr. Filip Mess
Professur für Sport- und Gesundheitsdidaktik
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24520
E-Mail: Filip.Mess(at)tum.de
Text: Fabian Kautz
Fotos: TUM, Dr. Spengler