Typ-1-Diabetes zählt zu den komplexesten chronischen Erkrankungen im Kindesalter. Die Betreuung erfordert nicht nur medizinisches Fachwissen, sondern auch ein hohes Maß an Engagement vonseiten der Eltern. Häufig werden medizinische Empfehlungen nur unzureichend befolgt, was unter anderem mit dem sozioökonomischen Hintergrund der Familien zusammenhängt. Denn Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen haben tendenziell eine schlechtere Gesundheitsentwicklung. Trotz dieser bekannten Problematik gibt es bislang nur wenige Untersuchungen, die den Behandlungsverlauf dieser jungen Bevölkerungsgruppe ganzheitlich und über einen längeren Zeitraum hinweg analysieren.
Diese Forschungslücke soll durch die aktuelle Studie unter der Leitung von Prof. Dr. Leonie Sundmacher, Ordinaria für Gesundheitsökonomie, in Zusammenarbeit mit ihren wissenschaftlichen Mitarbeitenden Christopher Nußbaum, Anna Novelli und Amelie Flothow verringert werden. Ziel des Forschungsteams war es, Muster in den Versorgungsverläufen bei Kindern mit Typ-1-Diabetes zu evaluieren. Die Ergebnisse wurden unter dem Titel „Exploring patterns in pediatric type 1 diabetes care and the impact of socioeconomic status“ im Fachjournal BMC Medicine veröffentlicht.
Routinedaten der Techniker Krankenkasse boten die Datengrundlage der Studie. Zum Einsatz kam eine sogenannte Sequenzanalyse mit anschließender Verwendung eines Clusteralgorithmus. Diese ursprünglich in den Sozialwissenschaften entwickelte Methodik wird zunehmend auch in der Versorgungsforschung genutzt, um Verläufe über längere Zeit differenziert abzubilden. Die Analyse schloss die Krankenkassendaten von ca. 900 Kindern im Alter von elf bis 14 Jahren aus den Jahren 2017 bis 2019 ein.
Basierend auf diesen Daten identifizierte das Forschungsteam um Prof. Sundmacher zwei Gruppen: ein Cluster mit „leitlinienkonformer“ Betreuung und ein weiteres, das deutliche Defizite in der Versorgung aufwies. Etwa ein Viertel der Kinder erhielt über drei Jahre hinweg eine medizinische Behandlung, die in mehreren Aspekten nicht den empfohlenen Standards entsprach – beispielsweise durch seltenere HbA1c-Kontrollen oder das Auslassen wichtiger Vorsorgeuntersuchungen wie dem Screening auf Retinopathie. Auffällig war, dass diese Defizite trotz regelmäßiger Arztbesuche bestanden.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass der regelmäßige Kontakt zum Gesundheitswesen noch keine leitliniengerechte Versorgung garantiert“, betont der wissenschaftliche Mitarbeiter Christopher Nußbaum. Ein zentraler Risikofaktor für unzureichende Behandlung war der sozioökonomische Status der Eltern. Demnach waren Kinder aus Familien mit niedriger Bildungsqualifikation oder elterlicher Arbeitslosigkeit signifikant häufiger im Cluster mit Versorgungslücken vertreten. Umgekehrt erhöhte die Teilnahme an einem Disease-Management-Programm (DMP) die Wahrscheinlichkeit für eine leitliniennahe Betreuung deutlich.
„Erfreulich ist, dass DMPs offenbar einen positiven Einfluss auf die Versorgungsqualität haben. Unsere Analyse zeigt jedoch auch, dass soziale Unterschiede einen erheblichen Einfluss auf die tatsächliche Versorgung haben“, resümiert Prof. Sundmacher. Die Ursachen hierfür könnten sowohl in regionalen Engpässen als auch in strukturellen Hürden beim Zugang zu spezialisierten Leistungen liegen.
Mit ihrer Arbeit liefert das Forschungsteam nicht nur neue Erkenntnisse über die reale medizinische Betreuung von Kindern mit Typ-1-Diabetes in Deutschland, sondern erschließt auch methodisch neue Wege zur Untersuchung komplexer Behandlungspfade. Die eingesetzte multidimensionale Sequenzanalyse erlaubt es, Versorgungsverläufe nicht nur punktuell, sondern umfassend über mehrere Dimensionen hinweg in der zeitlichen Entwicklung zu betrachten – ein vielversprechender Ansatz, der auch für andere chronische Erkrankungen von hoher Relevanz sein könnte.
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Kontakt:
Prof. Dr. Leonie Sundmacher
Professur für Gesundheitsökonomie
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24464
E-Mail: leonie.sundmacher(at)tum.de
Christopher Nußbaum
Professur für Gesundheitsökonomie
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
E-Mail: christopher.buehler(at)tum.de
Text: Jasmin Schol / Christopher Nußbaum
Fotos: Privat / Unsplash