Ohne Seil hängt sie schräg in der Wand. Nicht gerade die bequemste Position, doch das „Boulder-Problem“ lässt es nicht anders zu. Die Hände, komplett weiß vom Chalk, greifen einen länglichen schwarzen Griff. Der linke Fuß findet weiter unten auf einem runden Griff den nötigen Halt, wobei das Bein in Hüfte und Knie um 90 Grad angewinkelt ist. Das rechte Bein hängt nach unten. Sämtliche Muskelstränge, Sehnen und Adern kommen zum Vorschein, die Finger fangen an, zu krampfen. Nur noch ein Griff bis zum Top-Griff. „Allez, Alma! Allez!“, schreien die Teamkolleginnen. Der Blick wandert nach oben rechts zu dem einen grauen, kugelrunden Griff, der letzte Griff. An der Wand hängend holt sie sich mit einem Schwung noch die letzte Kraft und auf einmal geht alles ziemlich schnell: Sie springt nach oben weg, streckt ihre rechte Hand nach dem Griff aus, berührt ihn für einen kurzen Moment, ein lauter Knall und Alma liegt auf der Matte. Ihre Teamkollegin Leonie ermutigt: „Das war richtig gut! Da hat nicht mehr viel gefehlt.“
Zu Besuch beim Boulder-Training von Alma Bestvater und Leonie Lochner am Olympiastützpunkt Bayern in München, kurz vor den European Championships Munich 2022. Alma Bestvater und Leonie Lochner sind sowohl Teamkolleginnen als auch Kontrahentinnen. Beide vereint der Sport. Durch das Bouldern sind sie oft zusammen am Trainieren, zusätzlich studieren sie beide Sportwissenschaften an der Technischen Universität München.
Immer wieder versucht Alma diesen letzten Sprung. Auch Leonie hat einige Routen von ihrem Trainer bekommen, die sie heute trainiert. „Wir haben heute Projekt-Boulder auf dem Plan stehen, das sind Boulder, die so schwer sind, dass wir sie ein paar Sessions hintereinander projektieren müssen, bevor wir hochkommen“, erklärt Alma. Da ist einiges an Motivation und Ausdauer nötig. Zwei Stunden Projekt-Boulder-Training bedeuten: Klettern, auf die Matte fallen, wieder aufstehen, die Griffe für einen guten Halt mit einer Bürste putzen, die Hände für den nötigen Halt wieder mit ordentlich Chalk einreiben, um dann wieder zu klettern, bis man es irgendwann schafft. Alma und Leonie sind Sportkletterinnen aus Leidenschaft, natürlich merkt man ihnen die Frustration an, wenn ihnen ein Boulder-Problem einfach nicht gelingen mag, doch sie stehen immer wieder auf, um es noch einmal zu versuchen und es dann beim nächsten Mal vielleicht zu schaffen. Die Begeisterung zum Klettern kam bei Alma über ihre Schule. Bei einem Klassenausflug in den Thüringer Wald wagte sie die ersten Kletterversuche an einigen Felsen. „Das hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich danach in die Jugendgruppe des DAV eingetreten bin“, berichtet Alma mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Für Leonie gibt es seit ihrer Kindheit nichts anderes: „Mir wurde das Klettern in die Wiege gelegt, meine Eltern und mein großer Bruder klettern. Vor Kurzem ist mir aufgefallen, dass ich dieses Jahr das erste Mal in 22 Jahren mit meinen Eltern einen Urlaub machen werde, der kein Kletterurlaub ist.“
Die Lust am Klettern zeigt sich auch in ihrem Können. Beide trainieren im Deutschen Nationalkader und der nächste Wettkampf lässt nicht mehr lange auf sich warten. Beide werden bei den European Championships Munich 2022 in der Kategorie Bouldern starten. Zusätzlich werden auch Medaillenentscheidungen in den Disziplinen Lead, Speed und auch erstmals in dem neuen kombinierten Format Bouldern und Lead stattfinden. Mitten in München, auf dem Königsplatz, werden die Kletter-Wettkämpfe stattfinden, „dadurch kommen denke ich auch mehr Leute“, reflektiert Leonie und Alma ergänzt: „Bei der Quali ist auch freier Eintritt, da kommt bestimmt auch Laufpublikum, die einfach zufällig vorbeikommen. Dadurch wird die Quali wahrscheinlich auch ein bisschen voller und wir bekommen ein bisschen mehr Stimmung ab.“ „Das wird einfach ein super Wettkampf, hier in unserer Heimatstadt. Das ist schon sehr, sehr cool“, freut sich Leonie.
Beide haben bei den Europameisterschaften das Ziel, ins Halbfinale zu klettern. Was danach kommt „schauen sie mal“. Leonie hat sich in den letzten Wochen im Training nicht so gut gefühlt und „auch die Vorbereitung lief nicht so super“, deswegen will sie einfach für sich einen sehr guten Wettkampf klettern und keine großen Erwartungen schüren. Für ihre Teamkollegin Alma ist es gerade auch nicht besonders einfach. Im Februar dieses Jahres hatte sie sich die linke Schulter ausgekugelt und dabei das Labrum (ein Faserknorpel im Schultergelenk, der die Gelenkpfanne vergrößert und zur Stabilisierung des Schultergelenks beiträgt) gerissen. Um eine Operation kam sie dann nicht mehr herum. Eine lange Reha und Aussagen wie „du wirst erst in einem Jahr wieder an Wettkämpfen teilnehmen können“, waren die Folge. Doch Alma ließ sich nicht unterkriegen. In einem Jahr erst wieder an Wettkämpfen teilnehmen zu können, war für sie zu weit entfernt. „Es hat als Ziel für mich einfach nicht funktioniert“, so Alma, „also habe ich mir, schon fast wie eine Wunschvorstellung, die Europameisterschaft als Ziel gesetzt, um einfach motiviert bleiben zu können. Anscheinend hat es nun wirklich funktioniert“. Ein Freudestrahlen zieht sich durch ihr Gesicht. International ist sie zuletzt vor elf Monaten gestartet, weswegen sie ihre Leistung gerade nicht wirklich einschätzen kann. „Das wird eine Wundertüte bei mir“, scherzt Alma.
Dann kann man nur noch sagen: „Allez, Alma und Leonie!“
Die Boulder-Qualifikation der Frauen startet am Freitag, 12. August 2022, ab 11 Uhr auf dem Königsplatz in München.
Text: Melanie Langenwalter
Fotos: Melanie Langenwalter & Laura Kimpfbeck