Die European Championships begeistern München. Tausende Besucher strömen täglich zu den Wettkampfstätten im und um den Olympiapark, um die Athlet_innen in den 177 Medaillenentscheidungen zu unterstützen.
Aber auch jenseits des sportlichen Zentrums des elftägigen Multisportevents ist der klein-olympische Geist zu spüren. So werden, wie bei den Spielen vor 50 Jahren, die Wettbewerbe im Rudern an der Regattastrecke in Oberschleißheim ausgetragen. Und auch der Königsplatz (Beachvolleyball und Klettern), die Münchner Messe (Bahnrad) oder die Rudi-Sedlmayer-Halle (Tischtennis) präsentieren in diesen Tagen europäischen Spitzensport.
Dass diese European Championships aber auch rund 60 Kilometer südlich der bayerischen Landeshauptstadt ihre Spuren hinterlassen, mag auf den ersten Blick verwundern. Doch auch in Murnau herrschte an diesem Wochenende Ausnahmezustand. Am Staffelsee inmitten des Blauen Lands gelegen, feierte die Marktgemeinde den Start des Straßenradrennens der Männer. 142 Starter aus 33 Nationen waren in den Landkreis Garmisch-Partenkirchen gekommen, um sich auf die 209 Kilometer in Richtung Münchner Odeonsplatz zu begeben, wo es rund viereinhalb Stunden später zur ersten Straßenrad-Entscheidung dieser Europameisterschaften kommen sollte.
Dabei waren viele der knapp 12.000 Einwohner schon am Abend zuvor in den KulturPark der Marktgemeinde gekommen, um, ganz nach Vorbild des großen Bruders im Olympiapark, einem bunten Rahmenprogramm aus Sport, Kunst und Musik beizuwohnen. So bot sich allen Radsportbegeisterten die Möglichkeit, im Rahmen eines Benefizrennens selbst sportlich aktiv zu werden. Für das musikalische Highlight der Veranstaltung sorgte am Samstagabend zweifelsfrei der bayerisch-ägyptische Musiker Kaled, der die Besucher_innen mit seinem selbsternannten „urbanen Mundart-Pop“ begeisterte.
Am Wettkampftag selbst bot sich den Fans die einmalige Möglichkeit, hinter die Kulissen des professionellen Radsports zu blicken. Bereits ab 8 Uhr war das Fahrerlager auf dem Parkplatz eines Einkaufscenters geöffnet, sodass die finalen Vorbereitungen auf den Start des Europameisterschaftsrennens hautnah verfolgt werden konnte. Vor allem vor dem Teambus des deutschen WorldTour-Teams BORA-hansgrohe, der den deutschen Athleten als letzte Vorbereitungsstätte diente, sammelten sich die Fans.
Bevor es zum nur wenige Meter entfernten Start ging, nahmen sich Größen des deutschen Radsports, unter ihnen John Degenkolb, Nils Politt oder Roger Kluge, auch Zeit für Fotos und Autogramme. Neben Degenkolb und Politt nahm in Alexander Krieger auch ein weiterer der insgesamt acht deutschen Starter noch vor wenigen Wochen bei der Tour de France teil. Ein Schicksal, das sie mit weiteren Fahrern wie dem Niederländer Fabio Jakobsen, Filippo Ganna aus Italien oder den beiden Dänen Mikkel Bjerg und Mikkel Honore teilen. So machten sich trotz des Fehlens einiger europäischer Spitzenfahrer, wie den Trikotgewinnern der diesjährigen Tour Jonas Vingegaard (Dänemark), Tadej Pogacar (Slowenien) und Wout van Aert (Niederlande), zahlreiche namhafte Starter auf den Weg in die Murnauer Fußgängerzone, wo das Rennen um 10:15 Uhr feierlich eröffnet wurde.
Nach einer neutralisierten Runde durch den Startort, vorbei an den vielen Fans am Streckenrand, ging es für die Fahrer recht schnell zur Sache. Denn einen Großteil der rund 1.300 zu absolvierenden Höhenmeter wartete für das Fahrerfeld schon sehr früh im Rennen, nach knapp 20 absolvierten Kilometern. Hier ging es den 5,5 Kilometer langen und durchschnittlich fast fünf Prozent steilen Kesselberg vom Kochelsee an den Walchensee hinauf - ein vor allem für die Fernsehkameras malerischer Ausblick auf die bayerische Karibik bei bestem Sommerwetter. Für dieses idyllische Ambiente hatten die 142 Fahrer jedoch nur wenig Zeit. Und das, obwohl sich schon kurz nach Ende der neutralisierten Phase eine zweiköpfige Ausreißergruppe, bestehend aus dem Österreicher Lukas Pöstlberger und dem Schweizer Silvan Dillier, bildete, die das Rennen die nächsten 180 Kilometer anführen sollte. Vorbei an Lenggries und Bad Tölz passierte das Fahrerfeld schließlich auch den Starnberger See und machte sich auf den Weg nach München, wo zum Abschluss des Rennens noch einmal fünf Runden durch die Stadt absolviert wurden.
Rund 40 Kilometer vor dem Ende, als das Fahrerfeld langsam begann, sich für die finalen Kilometer und den abschließenden Sprint zu formieren, kam die deutsche Sprinthoffnung Pascal Ackermann zu Sturz, als er an einem Metallzaun der Streckenbegrenzung hängen blieb. Somit war die wohl größte deutsche Medaillenhoffnung, die glücklicherweise ohne größere Verletzungen blieb, aus dem Rennen. Nachdem die beiden Ausreißer Pöstlberger und Dillier schließlich rund 20 Kilometer vor dem Ziel durch das Peloton (Hauptfeld) eingeholt wurden, konzentrierte sich in den verbleibenden knapp zwei Runden durch die Stadt alles auf die verbleibenden Sprintfavoriten. Unter ihnen war auch die zweite deutsche Sprinthoffnung Phil Bauhaus, der sich jedoch auf den letzten Metern nicht entscheidend in Position bringen konnte. Stattdessen siegte der niederländische Top-Favorit Fabio Jakobsen mit einer Zeit von 4:38:49 Stunden auf dem gut gefüllten Münchner Odeonsplatz. Auch hier war der Eintritt auf den Tribünen und an der Strecke, wie während der gesamten 209 Kilometer, kostenlos.
Ein ganz besonderer Erfolg für den 25-Jährigen Jakobsen, der bei der Polen-Rundfahrt vor zwei Jahren schwer stürzte und mit lebensbedrohlichen Verletzungen in ein künstliches Koma versetzt wurde. Zweitplatzierter wurde Arnaud Demare aus Frankreich vor dem Belgier Tim Merlier, bester Deutscher war Phil Bauhaus auf Rang 16. Doch auch ohne deutschen Erfolg war diese Rundfahrt durch Oberbayern ein Ereignis mit viel Tour-de-France-Feeling.
Text & Fotos: Simon Sandig