Kinder und Jugendliche in Deutschland sitzen zu viel und bewegen sich zu wenig. Das ist das Ergebnis des Bewegungs-Zeugnisses 2022, das nach 2018 zum zweiten Mal ausgestellt wurde. Die Ergebnisse basieren auf einer weltweiten Untersuchung der „Active Healthy Kids Global Alliance“, die in 57 Ländern die körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen untersucht hat. Die Initiative wurde 2014 von kanadischen Wissenschaftler_innen ins Leben gerufen.
Das deutsche Bewegungszeugnis wurde vom Netzwerk „Active Healthy Kids Germany“ (AHKG) unter der Leitung von Prof. Dr. Yolanda Demetriou, Inhaberin der Professur für Sport- und Gesundheitspädagogik an der Technischen Universität München, sowie Prof. Dr. Anne Reimers von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit Unterstützung der Krankenkasse vivida bkk und der Stiftung „Die Gesundarbeiter – Zukunftsverantwortung Gesundheit“ erstellt. In Deutschland waren insgesamt 15 Forschungseinrichtungen beteiligt, von der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften waren neben Prof. Demetriou auch Prof. Dr. Karsten Köhler, Leiter der Professur für Bewegung, Ernährung und Gesundheit, sowie Dr. David Sturm von der Professur für Sport- und Gesundheitspädagogik involviert.
Für das Bewegungs-Zeugnis wurden wissenschaftliche Studien, nationale Erhebungen sowie Berichte von Regierungs- und Nichtregierungs-Organisationen ausgewertet, um das Bewegungs- und Sitzverhalten von Kindern und Jugendlichen anhand von elf Kategorien mit einem Schulnotensystem zu beurteilen. In diesem Jahr lag ein besonderer Fokus auf bestehenden Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen. Zudem wurden Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Auswertung berücksichtigt.
Deutschland bekommt lediglich die Note 4- in der Kategorie „Körperliche Aktivität“. Nur rund ein Drittel der Kinder (27 bis 33 Prozent) erreicht die Bewegungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Jungen bewegen sich dabei tendenziell etwas mehr als Mädchen. Kinder und Jugendliche in anderen Staaten sind teils deutlich aktiver. Die besten Werte weltweit erzielen Slowenien und Finnland, gefolgt von Japan, Südafrika und den USA. Aber auch viele europäische Länder wie Kroatien, Spanien und die Slowakei schneiden besser ab als Deutschland.
„Gerade für Kinder ist Bewegung unheimlich wichtig. Wenn sich Mädchen und Jungen als Kinder zu wenig bewegen, besteht ein hohes Risiko, dass sie dies auch als Erwachsene tun. Das wiederum begünstigt die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Herzinfarkt oder Schlaganfall. In Deutschland ist körperliche Inaktivität die fünfthäufigste Todesursache“, warnt Projektleiterin Prof. Demetriou.
„Die Ergebnisse des aktuellen Bewegungs-Zeugnisses sollten uns wachrütteln“, betont auch Roland Frimmersdorf, Vorstand der Stiftung „Die Gesundarbeiter – Zukunftsverantwortung Gesundheit“. „Es muss uns gelingen, junge Menschen in ihrer Lebenswelt zu erreichen und sie dabei zu unterstützen, sich im Alltag mehr zu bewegen. Je früher wir bei ihnen die Freude an Sport und Bewegung wecken, desto besser“, so Frimmersdorf weiter.
Nur wenig besser, und zwar mit der Note 4+, schnitten die Kinder und Jugendlichen aus Deutschland im Bereich „Körperliche Fitness“ ab. Vor allem bei Kraft und Beweglichkeit liegen Kinder und Jugendliche in Deutschland im internationalen Vergleich auf einem unterdurchschnittlichen Niveau. 38,2 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben an, dass sich ihre körperliche Fitness in der Corona-Pandemie verschlechtert hat.
Zudem leiden Kinder und Jugendliche in Deutschland an Übergewicht und Adipositas. Etwa neun bis 20 Prozent haben einen erhöhten Body-Mass-Index (BMI) und sind somit übergewichtig bzw. adipös. Der Anteil der Jungen, die adipös sind, ist dabei höher als bei den Mädchen. Insbesondere während der Corona-Pandemie wurde ein Anstieg der BMI-Werte festgestellt.
Auffällig ist zudem, dass Mädchen mit der Note 4+ im Bereich „Nicht-organisierter Sport und aktives Spielen“ schlechter abschneiden als Jungen (Note 3). Diese treiben entsprechend häufiger nicht-organisierten Sport wie beispielsweise Fußball, Basketball oder Spielen im Freien. Während der COVID-19-Pandemie (im zweiten Lockdown im Frühjahr 2021) ging das aktive Spielen deutlich zurück, wohingegen das nicht-organisierte Sporttreiben einen Anstieg verzeichnete.
„Im Vergleich zum ersten Bewegungs-Zeugnis 2018 sind wir gleich schlecht geblieben“, bilanziert Studienleiterin Prof. Demetriou. „Im Vergleich zu 2018 hat sich nicht viel verändert, die Corona-Pandemie hat die Situation sogar noch verschärft. Die Situation ist nach wie vor prekär. Wir müssen mehr tun, damit sich unsere Kinder und Jugendlichen mehr bewegen!“
„In Deutschland müssen Kinder und Jugendliche animiert und unterstützt werden, Freude an Bewegung zu entwickeln, ganz nach unserem Motto ‚Nicht sitzen bleiben – komm in Bewegung!‘ Aber auch das Umfeld von Kindern und Jugendlichen sollte noch bewegungsfreundlicher gestaltet werden“, empfiehlt Prof. Reimers.
Bessere Noten bekam Deutschland bei den Rahmenbedingungen, die der organisierte Sport, Schule, Kommune und Umwelt bieten: 60 bis 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen treiben regelmäßig Sport in Organisationen, wie beispielsweise einem Verein. Gerade im Grundschulalter sind sehr viele Kinder Mitglied in einem Sportverein. Während der Corona-Pandemie ist das Sporttreiben in Vereinen aufgrund der Lockdowns jedoch deutlich zurückgegangen bzw. stellenweise sogar komplett zum Erliegen gekommen.
In Deutschland ist Sportunterricht für alle Kinder und Jugendlichen verpflichtend, der Großteil der Unterrichtsstunden findet auch statt. Strukturell verfügen beinahe alle Schulen (97 Prozent) über eine Sporthalle und 66 Prozent der Schulen über einen bewegungsfreundlichen Pausenhof. Während der COVID-19-Pandemie fand Sportunterricht jedoch kaum statt und wurde teilweise untersagt. Es existieren kaum qualitätsgesicherte Online-Angebote oder entsprechende Unterrichtskonzepte.
Auch der Bereich „Kommune und Umwelt“ schneidet gut ab. Zwischen 66 und 77 Prozent der Kinder und Jugendlichen nannten, dass sie frei von Hindernissen, wie beispielsweise Autoverkehr oder großen Straßen, draußen spielen können. Bei über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen befindet sich ein Sportplatz in der Nähe. Zudem gibt es für 80 Prozent einen Park oder eine Grünfläche nahe des Wohnorts, rund 56 Prozent haben ein Schwimmbad am Wohnort.
Im internationalen Vergleich der 57 Länder schneiden Slowenien, Japan sowie die beiden skandinavischen Länder Dänemark und Finnland mit einer Gesamtnote 2- am besten ab. Deutschland liegt mit Note 3- eher im mittleren Bereich, rangiert jedoch in den Bereichen Sport, Schule, Kommune und Umwelt im oberen Drittel. Es zeigt sich damit ein deutlicher Kontrast: Während die äußeren Einflussfaktoren und das Umfeld recht gut bewertet sind, zeigen sich beim individuellen Bewegungsverhalten deutliche Schwächen.
Um auch die Lebenswelten noch bewegungsförderlicher zu gestalten, empfehlen die Studienleiter_innen der 57 teilnehmenden Länder unter anderem die Verbesserung der Möglichkeiten, sich in der Schule körperlich zu betätigen, sowie die Erhöhung der Anzahl der wöchentlichen Schulsportstunden. Weiterhin sollte der Zugang zu öffentlichen Räumen, Grünflächen, Spielplätzen oder Sportanlagen ausgebaut werden.
Partner von "Active Healthy Kids Germany" sind Wissenschaftler_innen folgender Einrichtungen: Technische Universität München, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS/Bremen, Universität Bayreuth, Deutsche Sportjugend, Deutscher Olympischer Sportbund, Universität Ulm, Pädagogische Hochschule Weingarten, Robert-Koch Institut/Berlin, Justus-Liebig-Universität Gießen, MSH Medical School Hamburg, Karlsruher Institut für Technologie, Deutscher Sportlehrer Verband; Deutsche Berufsakademie Sport und Gesundheit/Baunatal; Universität Leipzig.
Zur Broschüre des Bewegungs-Zeugnisses 2022
Zur weltweiten Erhebung „Global Matrix 4.0“
Zur Homepage der Professur für Sport- und Gesundheitspädagogik
Zur Homepage der Stiftung „Die Gesundarbeiter“
Kontakt:
Prof. Dr. Yolanda Demetriou
Professur für Sport- und Gesundheitspädagogik
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24686
E-Mail: yolanda.demetriou(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
Fotos: "Active Healthy Kids Global Alliance"/privat