Die „Abnehmspritzen“ Ozempic und Wegovy werden als Durchbruch in der medizinischen Behandlung von Fettleibigkeit gesehen. Diese Medikamente ergänzen eine wachsende Zahl pharmakologischer Ansätze – einschließlich Antihypertensiva gegen Bluthochdruck und Statine zur Senkung des Cholesterinspiegels – zur Verringerung des Risikos von Herzerkrankungen. Die Entstehung dieser Behandlungen hat jedoch die Frage aufgeworfen, ob eine Verhaltensänderung noch relevant ist.
Prof. Dr. Nikkil Sudharsanan, Leiter der Rudolf Mößbauer Professur für Behavioral Science for Disease Prevention and Health Care, hat sich zusammen mit Mohammed K. Ali, Professor für globale Gesundheit und Epidemiologie an der Emory University in Atlanta/USA, und Harsha Thirumurthy, Professor am Department of Medical Ethics and Health Policy der University of Pennsylvania in Philadelphia/USA, in einem Artikel dafür ausgesprochen, trotz der neuartigen biomedizinischen Lösungen Verhaltensänderungen nicht zu vernachlässigen. Der Kommentar ist nun unter dem Titel „Behaviour change in the era of biomedical advances“ im Journal „Nature Human Bevaviour“ erschienen. Die Fachzeitschrift hat einen Impact Faktor von 24,252.
Darin gehen die Wissenschaftler_innen auf die neuesten biomedizinischen Lösungen zur Krankheitsbewältigung wie beispielsweise Medikamente zur Gewichtsreduktion ein und diskutieren die Frage, ob Maßnahmen und Strategien für eine mögliche Verhaltensänderung dadurch obsolet werden.
Sich gesund zu ernähren, körperlich aktiv zu sein, Tabak- und Alkoholmissbrauch zu vermeiden, ausreichend zu schlafen und gegebenenfalls geeignete Medikamente einzunehmen, sind seit langem die wichtigsten Empfehlungen zur Vorbeugung und Behandlung von kardiometabolischen Erkrankungen. Trotz einer Vielzahl an Studien ist es jedoch bislang nur in begrenztem Maße gelungen, Einzelpersonen zu ermutigen, gesunde Verhaltensweisen zu praktizieren und beizubehalten. Die Zahl der Menschen, die von Adipositas, Diabetes und Bluthochdruck betroffen sind, hat sich in den letzten vier Jahrzehnten weltweit mehr als verdreifacht.
Darüber hinaus haben Verhaltensstrategien, wie beispielsweise strukturierte Beratungsprogramme, die zur Förderung der Übernahme von Lebensstilmaßnahmen eingesetzt werden, nur geringe oder kurzfristige Auswirkungen. Daher stellt sich die Frage, ob verhaltensändernde Interventionen und Strategien weiterhin eingesetzt werden sollten, um kardiometabolische Erkrankungen zu verhindern und zu bewältigen.
Die Wissenschaftler_innen argumentieren, dass die Vernachlässigung von Strategien zur Förderung gesunder Verhaltensweisen viele Risiken mit sich bringe. Dadurch wird möglicherweise die Verringerung der Belastung durch kardiometabolische Krankheiten, Krebs und andere chronische Erkrankungen verlangsamt.
Daher werden im Rahmen des Aufsatzes fünf Gründe diskutiert, warum Verhaltensänderungen trotz erweiterter biomedizinischer Möglichkeiten weiterhin unerlässlich sind:
- Die Wirksamkeit von biomedizinischen Medikamenten hängt auch vom menschlichen Verhalten ab, da diese Interventionen nur solange wirken, wie die Betroffenen diese konsequent einhalten. Daher sind Akzeptanz und Therapietreue weiterhin von entscheidender Bedeutung.
- Da biomedizinische Medikamente kontinuierlich eingesetzt werden müssen, ist ihre Verwendung in großem Maßstab teuer. Nicht jeder kann sich diese auf Dauer leisten.
- Auch wenn Medikamente bei weit verbreiteten Krankheiten wie beispielsweise Adipositas wirksam sind, wären Änderungen des Lebensstils und der fettleibigkeitsfördernden Ernährungsgewohnheiten für den Erfolg der Behandlung wichtig.
- Die Wirkung biomedizinischer Medikamente kann dadurch eingeschränkt werden, dass nicht jede_r dafür in Frage kommt oder daran interessiert ist, solche Präparate zu nutzen. Viele Bevölkerungsgruppen stehen diesen misstrauisch gegenüber und bevorzugen nicht-pharmakologische Interventionen.
- Derzeit ist noch unklar, ob die biomedizinischen Interventionen „Einheitslösungen" sind. Es gibt immer mehr Daten, die zeigen, dass die Risikofaktoren für Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes (bzw. die Ursachen dafür) jeweils vielschichtiger sind.
Aus den genannten Gründen ist eine groß angelegte Bereitstellung biomedizinischer Lösungen möglicherweise nicht praktikabel. Zudem kann die Empfehlung ihrer dauerhaften Anwendung eine Herausforderung darstellen.
„Die neuen Medikamente erhalten derzeit eine große Aufmerksamkeit, vor allem auch medial“, erklärt Prof. Sudharsanan. „Die Patient_innen müssen diese jedoch regelmäßig und beständig einnehmen. Da diese auch Nebenwirkungen haben können, die nicht zu vernachlässigen sind, wird nicht jede_r sie einnehmen wollen oder können. Daher sollten wir die Wichtigkeit von Lebensstilveränderungen nicht aus dem Auge verlieren! Im Idealfall erzielt man durch eine Kombination aus biomedizinischen und verhaltensbezogenen Maßnahmen, die individuell angepasst sind, die beste Wirkung.“
Zum Kommentar “Behaviour change in the era of biomedical advances” im Journal “Nature Human Behaviour”
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Kontakt:
Prof. Dr. Nikkil Sudharsanan
Rudolf Mößbauer Professur für Behavioral Science for Disease Prevention and Health Care
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Tel.: 089 289 24990
E-Mail: nikkil.sudharsanan(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
Fotos: “Nature Human Behaviour”/privat