Es ist die 98. Minute im WM-Finale 2003 zwischen Deutschland und Schweden. Verlängerung, Freistoß für Deutschland. Renate Lingor lupft den Ball gefühlvoll in die Strafraumitte – Kopfballspezialistin Nia Künzer steigt hoch und wuchtet den Ball über Torfrau Caroline Jönssen ins Tor. Der Rest ist Geschichte, Deutschland zum ersten Mal Weltmeister(in).
Rund 20 Jahre nach dem ersten WM-Triumph der deutschen Mannschaft und Künzers Kopfball zum WM-Titel steht in Australien und Neuseeland die nächste Frauen Fußball-Weltmeisterschaft an. Anlässlich dieses Events werden die Fragen zu den langfristigen Folgen – Stichwort: Hirnschäden durch Kopfbälle – wieder intensiver, so auch im Frauenfußball. Eine potentielle Gefahr lauert im besagten Kopfballspiel, das ein elementarer Bestandteil der Sportart Fußball ist.
Jan Kern, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft, untersucht im Rahmen seiner Doktorarbeit den „Einfluss von Kopfbällen auf Hirnfunktion und -struktur". Unter dem Titel „A Prospective Investigation of the Effects of Soccer Heading on Cognitive and Sensorimotor Performances in Semi-Professional Female Players“ (aktuell noch im Review-Verfahren) befasst sich Kern mit der Analyse von möglichen Gesundheitsrisiken bei Fußballerinnen, die von regelmäßigen Kopfstößen im Trainings- und Spielbetrieb ausgehen könnten.
Das Projekt wurde vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) zur Erforschung der Einflüsse von Kopfbällen im Fußball auf Kognition, Sensomotorik und Hirnstruktur gefördert. Prof. Dr. Joachim Hermsdörfer, Ordinarius des Lehrstuhls für Bewegungswissenschaft, leitet das Projekt an: „Dass wir uns in unserem Projekt speziell dem Frauenfußball gewidmet haben, bekommt durch die anstehende Weltmeisterschaft der Frauen in Australien und Neuseeland natürlich eine ganz besondere Bedeutung“, erläutert der Bewegungswissenschaftler.
Anlässlich der heute, am 20. Juli 2023 beginnenden FIFA Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in Australien und Neuseeland führten wir ein Interview mit Jan Kern.
Welche Gefahren können durch Kopfbälle entstehen?
Jan Kern: „Grundsätzlich stellen Stöße gegen den Kopf – also auch Kopfbälle und die damit assoziierte mechanische Einwirkung auf das Gehirn – eine potentielle Gefahr für die Gesundheit dar. Einzelne Kopfbälle bedeuten aufgrund der geringen Krafteinwirkung noch kein nachhaltiges Risiko für die Gehirngesundheit. Es besteht allerdings die Sorge, dass sich die subtilen Effekte wiederholter Kopfbälle über den Verlauf einer Fußballkarriere kumulieren und letztlich zur Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen, wie bspw. Demenz oder Parkinson beitragen könnten. Doch auch, wenn dieser Zusammenhang nicht selten als erwiesen dargestellt wird, gibt es keine wissenschaftlich fundierten Beweise, die zweifelsfrei belegen, dass das Spielen von Kopfbällen für die Entwicklung dieser Erkrankungen verantwortlich ist. Mit Blick auf die aktuelle Forschungslage kann diese Frage dementsprechend nicht abschließend beantwortet werden."
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Jan Kern: „Während die Ergebnisse bisheriger Studien nahelegen, dass Frauen im Durchschnitt weniger Kopfbälle spielen als ihre männlichen Kollegen, besteht Grund zur Annahme, dass Frauen im Zuge von Kopfbällen vergleichsweise höhere Kopfbeschleunigungen erfahren. Dies hängt unter anderem mit anthropometrischen Unterschieden, wie beispielsweise einem geringeren Kopfumfang und einer geringeren Kopfmasse, zusammen. Auch eine oftmals schwächer ausgeprägte Nackenmuskulatur kann in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Mit Blick auf die möglichen negativen gesundheitlichen Effekte durch Kopfbälle können wir allerdings noch keine wissenschaftlich fundierte Aussage treffen."
Warum haben Sie sich für Frauenfußball entschieden, um das Thema „Auswirkungen von Kopfbällen“ zu untersuchen?
Jan Kern: „Neben den genannten Gründen einer möglicherweise erhöhten Anfälligkeit von Frauen gegenüber Kopfstößen war hierfür vor allem die weitgehende Nichtberücksichtigung von Fußballspielerinnen in bisherigen Studien zu den möglicherweise negativen Effekten von Kopfbällen ausschlaggebend. Während Fußball zwar nach wie vor ein von Männern dominierter Sport ist, hat Frauenfußball in den vergangenen Jahren enorm an Popularität gewonnen, was sich nicht zuletzt in der stetig steigenden Mitgliederzahl an weiblichen Spielern in den Vereinen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) äußert. Dieser Entwicklung wollten wir mit unserem Projekt Rechnung tragen."
Was haben Sie in Ihrer aktuellen Studie genau erforscht?
Jan Kern: „Das Ziel unserer Studie war die Untersuchung der möglicherweise negativen Auswirkungen von Kopfbällen auf verschiedene Domänen der Kognition und der Sensomotorik sowie der Gehirnstruktur. Hierfür haben wir, im Gegensatz zur Mehrzahl früherer Studien, ein prospektives Design gewählt und insgesamt 28 Fußballspielerinnen über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren begleitet. Auch eine Kontrollgruppe aus 15 Sportlerinnen, die keine Kontaktsportarten betreiben, waren Teil der Untersuchung."
Wie liefen die Untersuchungen ab?
Jan Kern: „Zu Beginn der Studie absolvierten sowohl die Fußballspielerinnen als auch die Kontrollprobandinnen eine Eingangsuntersuchung, die neben den Verhaltenstests auch MRT-Scans umfassten. Nach jeder der zwei darauffolgenden Spielzeiten wurden die Untersuchungen wiederholt. Über den Verlauf der Saisons wurden die Spiele der Fußballerinnen mittels Videokameras aufgezeichnet, um aus diesen Aufnahmen die individuelle Kopfballanzahl jeder Spielerin zu bestimmen. Für einen Teil der Spiele wurden die Fußballerinnen auch mit tragbaren Beschleunigungssensoren zur Bestimmung der Kopfballintensität ausgestattet. Ursprünglich war die Studie über einen noch längeren Zeitraum angesetzt, dies wurde jedoch durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Aussetzung des Spielbetriebs leider verhindert."
Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Untersuchung?
Jan Kern: „Während die MRT-Aufnahmen noch nicht final ausgewertet sind, konnten wir für die analysierten Kognitions- und Motorik-Tests keine stichhaltigen Nachweise für einen negativen Effekt des Kopfballspiels auf die von uns erfassten Domänen finden. Lediglich in einzelnen Aspekten der Feinmotorik und der Gleichgewichtsleistung zeigten die Fußballerinen im Vergleich zur Kontrollgruppe subtile Verschlechterungen."
Welche Auswirkungen haben die Ergebnisse mit Blick auf die kommende Weltmeisterschaft der Frauen, respektive den Frauenfußball?
Jan Kern: „Der Artikel zu unserer Studie befindet sich gerade noch im Begutachtungsprozess, weshalb die direkten Auswirkungen auf die anstehende Weltmeisterschaft eher gering sein werden. Insgesamt gestaltet sich der Transfer bisheriger Forschungsergebnisse in die Fußballpraxis – vor allem in den Profibereich – eher schwierig, was jedoch vor allem auch auf die uneindeutige Forschungslage zurückzuführen ist, die nur sehr begrenzt verlässliche Handlungsempfehlungen zulässt. Die Veröffentlichung unserer Forschungsergebnisse kann aber hoffentlich das Potential besitzen, ein erhöhtes Maß an Sensibilität bei den involvierten Personen, also Funktionär_innen, Trainer_innen und auch Spieler_innen, zu schaffen und in diesem Zusammenhang auf die Wichtigkeit der Thematik im Bereich des Frauenfußballs hinzuweisen. Dies kann im besten Fall zu einer gesteigerten Bereitschaft der Landesverbände und Fußballvereine führen, Forschung in diesem Bereich als wichtig anzuerkennen und diese dann auch entsprechend zu unterstützen."
Welche Handlungsempfehlungen gibt es in Bezug auf Kopfbälle bei Frauen?
Jan Kern: „Vor kurzem hat der DFB aktualisierte Leitlinien zum Kopfballspiel veröffentlicht, die jedoch keine explizite Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Spielern beinhalten und sich zudem ausschließlich auf den Jugendbereich beziehen. Während andere Nationalverbände, wie beispielsweise in den USA und Großbritannien, Einschränkungen und teilweise sogar Verbote des Kopfballspiels für bestimmte Altersklassen des Jugendbereichs vorgenommen haben, setzt der DFB in seinen Leitlinien auf eine Reduktion der Kopfballhäufigkeit in jüngeren Altersklassen. Einerseits wurden vor allem Spielformen mit reduzierter Spielfeldgröße eingeführt, bei denen kaum Kopfbälle vorkommen. Andererseits sollen die Spielerinnen und Spieler die korrekte Kopfballtechnik möglichst risikofrei erlernen – hierbei werden unter anderem Luftballons und Schaumstoffbälle eingesetzt. Nach aktueller Einschätzung soll die technisch saubere Ausführung von Kopfbällen das Potential besitzen, die resultierenden Kopfbeschleunigungen zu verringern."
Wie könnten künftige Forschungsprojekte aussehen?
Jan Kern: „Aufgrund des nach wie vor uneindeutigen Forschungsstands bzgl. der potentiell negativen Auswirkungen von Kopfbällen besteht eine große Notwendigkeit nach weiterer Forschung in diesem Bereich. Neben längerfristig angesetzten prospektiven Studien mit größeren Fallzahlen stellen auch experimentelle Laboruntersuchungen, die eine bestmögliche Kontrolle externer Einflussfaktoren ermöglichen, einen wichtigen Bestandteil innerhalb des Forschungsfeldes dar. Ein Thema, das wir am Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft bereits aufgegriffen haben und in künftigen Studien weiter vertiefen wollen, ist die Frage nach der Rolle der Expertise – also ob und inwieweit eine saubere Kopfballtechnik tatsächlich einen protektiven Faktor darstellen kann. In diesem Zusammenhang spielen auch multimodale Ansätze eine wichtige Rolle, die neben Verhaltensuntersuchungen oder MRT-Aufnahmen auch die Erfassung von kinematischen Daten oder Biomarkern als mögliche Verletzungsprädiktoren beinhalten."
Vielen Dank für das Gespräch!
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Kontakt:
Prof. Dr. Joachim Hermsdörfer
Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
Tel.: 089 289 24550
E-Mail: joachim.hermsdoerfer(at)tum.de
Jan Kern
Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft
Georg-Brauchle Ring 60/62
80992 München
Tel.: 089 289 24643
E-Mail: jan.kern(at)tum.de
Text: Bastian Daneyko
Fotos: privat